Breath Made Visible
Ruedi Gerber, Suisse, USA, 2009o
Anna Halprin : le souffle de la danse est un film documentaire sur la carrière exceptionnelle d’Anna Halprin, pionnière américaine de la danse contemporaine. Une femme qui a redéfini l’art moderne avec la conviction que la danse peut nous transformer et nous guérir à tous les âges de la vie.
Keine Sorge, hier geht es um keine selbstgefällige Avantgardistin und um keine salbungsvolle Esoterikerin, die nur ihresgleichen anspricht, sondern schlicht um eine grossartige Frau, die ihren eigenen Weg konsequent gegangen ist. Zur Zeit der Dreharbeiten 86, tritt sie mit der geistigen und physischen Präsenz einer jungen Frau vor die Kamera. Der Schweizer Regisseur Ruedi Gerber war damals schon länger in den USA ansässig und mit Halprin gut bekannt. Entsprechend entspannt erzählt die Tänzerin, Choreographin und weiterhin unterrichtende Lehrerin in diesem stimmigen und dicht montierten Porträt, das eine Fülle stupender Zeitdokumente einflicht, von ihrem langen Weg. Sie muss sich und ihrem Publikum nichts beweisen, sondern lebt schlicht ihre erfahrungsgesättigte Überzeugung. Wenn sie sagt, dass sie in den siebziger Jahren selbst den Krebs tanzend besiegt habe und ihr Leben seither nicht mehr der Kunst diene, sondern die Kunst ihrem Leben, so löst sich dieser Anspruch in jedem der dokumentierten Projekte ein. Virtuosität und Wahrhaftigkeit, Radikalität und Humor – selbst der Tanzbanause gerät ins Schwärmen ob dieser Lebenskünstlerin, und der Film baut ihr eine wunderbare Plattform. Eine Entdeckung in jeder Hinsicht.
Andreas FurlerAnna Halprin, l'héroïne de ce beau documentaire, n'est pas célèbre de ce côté de l'Atlantique. Son oeuvre, sa démarche, sa philosophie sont pourtant bouleversantes.
Isabelle RegnierUn documentaire en forme de leçon de danse.
Philippe NoisetteGalerie photoso
Im Tanz sucht sie Antworten auf das Leben und im Alltag den Stoff, aus dem sie ihre Choreografien destilliert; eine Begegnung mit der 90-jährigen Tanzikone Anna Halprin, über die zur Zeit ein eindrücklicher Dokumentarfilm in den Kinos läuft.
Dumpf prallen die nackten Füsse auf den Boden. Eins, zwei, eins, zwei. Immer vorwärts, immer im Kreis. Männer, Frauen aller Altersgruppen. Das Pochen einer Trommel hält den Bewegungsstrom am Fliessen. Zehn, zwanzig Minuten lang. Die Energie im Raum schwillt mächtig an. Man wähnt sich in einem Kraftwerk. Immer wieder brechen die Kreise auseinander, führen weiter in noch grössere Kreise. Mandalas aus Menschen, die plötzlich an die Grenzen des Raumes stossen. In der Natur kennen wir das Phänomen, wenn ein Stein ins Wasser fällt und sich die Wellen gleichmässig nach allen Seiten ausbreiten.
Wir befinden uns weder unter Indianern noch in freier Natur. Sondern in einem Tanzraum in der Nähe des Bahnhofs Zürich Oerlikon. Fast hundert Menschen aus dem In- und Ausland sind an diesem Wochenende gekommen, um sich bewegen zu lassen von jener filigranen Erscheinung, die barfuss am Rand der Tanzfläche steht. Es ist die amerikanische Tanz- und Performance-Ikone Anna Halprin, eine der einflussreichsten Grössen des modernen Tanzes. Vital ist sie und witzig, körperlich und geistig fit. «No, I don't feel tired at all», sagt sie abends nach dem mehrstündigen Workshop und strahlt.
Im Juli wird sie 90. Ein Dokumentarfilm über ihr Leben und Schaffen ist der Grund, weshalb sie noch einmal nach Europa gereist ist. «Breath Made Visible» heisst der Film des Berner Regisseurs Ruedi Gerber, ein Vermächtnis, das dramaturgisch brillant historische Tanzeinlagen aus dem Leben von Anna Halprin mit Interviews an Originalschauplätzen und fotografischen Rückblicken verknüpft.
«Jeder ist ein Tänzer»
Die 1920 als Hannah Dorothy Schuman geborene Anna Halprin begann als Vierjährige zu tanzen. Sie lebte mit ihrer Familie in einer jüdischen Einwanderergemeinde nördlich von Chicago und erfuhr früh, was es heisst, zu einer Minderheit zu gehören. Die Kleine bekam Ballettstunden und spürte bald, dass Ballett nicht ihre Welt ist. Sie liess sich in modernem Tanz ausbilden und absolvierte ein Tanzstudium bei Margaret H'Doubler an der Universität Wisconsin.
Später folgte sie Lawrence Halprin, ihrem späteren Ehemann, nach Cambridge, Massachusetts. Hier studierte er Landschaftsarchitektur, sie belegte Design und übertrug das neu gewonnene Wissen auf die Kunst des Choreografierens. Begegnungen mit emigrierten Mitgliedern des Weimarer Bauhauses wie Walter Gropius oder Wassily Kandinsky wurden prägend für ihre Bewegungsforschung. Nach der Übersiedlung an die Westküste der USA gründete sie die Company San Francisco Dancers' Workshop und experimentierte mit Künstlern aller Richtungen. Sie kam zur Erkenntnis, dass authentische Tanzkunst nur aus dem intensiven Wahrnehmen des Hier und Jetzt entsteht.
«Jeder ist ein Tänzer, eine Tänzerin», sagt sie.
Auf ihre Initiative entstand ein Austausch zwischen Künstlern der West- und der Ostküste. So kamen Trisha Brown, Yvonne Rainer oder Steve Paston in ihre Workshops, grosse Namen, die später als Judson Church Troup in die Tanzgeschichte eingehen sollten. Aber auch die Butoh-Künstler Eiko und Koma oder John Cage wurden durch sie beeinflusst. Und Merce Cunningham sah in ihr eine «Prophetin und Philosophin».
Radikal anders
In ihren Arbeiten konnte Halprin alltägliche Handlungen zum Ausgangspunkt für die künstlerische Erkundung einer Bewegung machen. Das war radikal anders, als was man bisher gekannt hatte. Sie erhielt Einladungen nach Europa. Am Teatro La Fenice in Venedig kreierte sie 1963 auf Einladung des Komponisten Luciano Berio ein Stück für die Biennale, das heftige Reaktionen auslöste.
Noch heftiger reagierte das Publikum auf das Stück «Dress and Undress», in dem splitternackte Tänzer sich in lange, fleischfarbene Packpapierbahnen hüllten — dünne, raschelnde Haut. Bis dahin gab es keine nackten Tänzer auf der Bühne. Auch die Gründung der ersten multikulturellen Tanzcompany in Los Angeles geschah auf Halprins Initiative. Es war ihre Antwort auf die Rassenkrawalle.
Mitte der 1970er-Jahre erfuhr Anna Halprins künstlerische Arbeit eine Wende. Sie erkrankte an Krebs und nahm Abschied von der Bühne. Doch ihre tänzerische Forschungsarbeit ging weiter. In der Selbstporträt-Ritual-Performance entdeckte sie die Kraft des Tanzes als Heilungsritual. Ihre eigene Spontanheilung nahm sie zum Anlass, um fortan mit Krebspatienten zu arbeiten. «Bevor ich Krebs hatte, schöpfte ich aus dem Leben Kunst. Nachdem ich Krebs gehabt hatte, half mir die Kunst, wieder ins Leben zurückzufinden.» Sie habe sich den Weg zur Heilung freigetanzt, sagt Anna Halprin.
Der Weg zur Heilung
Man möchte mehr wissen, viel mehr. Doch die Zeit ist plötzlich zu kurz angesichts dieses reichen Lebens. Im Film, in dem auch ihr im Oktober 2009 verstorbener Mann zu sehen ist — mit ihm war sie 70 Jahre verheiratet —, ist sie als über Achtzigjährige wieder als Performerin zu sehen. Die Besuche bei ihrem Mann auf der Intensivstation hätten sie zu einer neuen Choreografie inspiriert, sagt Anna Halprin. Das Stück «Intensive Care», in dem sie sich mit dem Sterben auseinandersetzt, ist eines der eindrücklichsten Tanzsoli im Film.
Die Frage bleibt. Was ist Tanz? Die Choreografin, die in ihrem Leben über 150 Tanzstücke kreiert hat, lässt sich Zeit mit der Antwort. «Dance is what you see, what you smell, what you hear», sagt sie. Oder eben: «Breath Made Visible», Lebensatem, der sichtbar wird. Auf die Frage, was für sie als Tänzerin das Älterwerden bedeutet, reagiert die 90-Jährige ohne Zögern: «Altern ist Erleuchtung mit vorgehaltener Pistole.»